vom 03.06.2000
Vor 20 Jahren wurde das Hüttendorf geräumt -"1004" und die Folgen:
"Am Wichtigsten sind die persönlichen Erfahrungen"
Gerhard Schröder, damals Juso-Vorsitzender, heute
Bundeskanzler, zu Besuch im Hüttendorf "1004" und im Gespräch mit Jörg Janning
und anderen Platzbesetzern.
by Lüchow. Natürlich sind die Erinnerungen ähnlich: Da war dieses" unglaubliche Gefühl von Freiheit in dieser anarchistischen Enklave in der Enklave", sagt Monika Tietke. Und Lilo Wollny: "In dem Augenblick, in dem ich durch den Schlagbaum ging, war es, als ob ein Zentner Druck von mir abfiele, jedes schlechte Gewissen war plötzlich weg". "Ganz viel Lebenslust", und dass es möglich war, eine Utopie zu leben, erinnern Heike und Gottfried Mahlke, Karl Behrens den bis dahin nicht erlebten Zusammenhalt von Jung und Alt, von Fremden und Einheimischen. Wenn sie an das Dorf 1004 denkt, assoziiert
Elke Janning"Woodstock", Undine von Blottnitz kam das Leben im Dorf "1004" vor wie Ferien vom wirklichen Leben, man wurde in die Kindheit zurückversetzt, in ein großes Ferienlager". Die 33 Tage auf " 1004 das war für viele ein Stück gelebter Traum. Und es sind die schönen Erinnerungen, die zuerst wiederkommen. Das böse Ende das zu erwarten war und auf das alle auch warteten - erst an zweiter Stelle. Das war "wie Krieg", sagen die, die dabei waren, die tieffliegenden Hubschrauber sind als besonderer
Schrecken in Erinnerung. Und manchen ist bis heute nicht begreiflich, "dass die uns so eingeschätzt haben", dass Polizei und BGS dermaßen bewaffnet kamen und agierten, um" diese fröhlichen, friedlichen und phantasievollen Leute" vom Platz zu räumen. Die Besetzung des Platzes und das Leben dort ist für die Beteiligten eine wichtige Aktion mit langer Nachwirkung: Vor allem auf sie selbst, dann aber auch auf die Anti-Atom-Bewegung, die hier im Landkreis rund um Gorleben nie so lange überlebt hätte, und den Landkreis und seine Bevölkerung sowieso. Die Erinnerungen sind stark, haben Bodenhaftung. Heute von alten Zeiten zu schwärmen, sie gar zu glorifizieren, mag keine und keiner. Gabi Haas sieht die Gefahr, das im Rausch der Erinnerungen leicht einiges verklärt werden kann und dazu führt, "das wir uns für unbesiegbar halten". Und wer Kinder hat, ist noch zurückhaltender mit dem
Erzählen der Geschichten von damals. Im übrigen mischt sich möglicher Stolz auf das, was vor 20 Jahren gelang, mit dem ärger darüber, was heute den Grünen und der Anti-Atom-Bewegung nicht mehr gelingt. Am wichtigsten sind die persönlichen Erfahrungen, sagt Heike Mahlke. Das Erlebnis, dass Gewaltfreiheit funktioniert und nicht nur ein theoretisches Modell ist, prägt seitdem ihr berufliches Leben. Es hat sie befähigt bei ihrem Engagement für den Frieden etwa in Bosnien dem Unrecht zu widerstehen und auch ein Risiko einzugehen. Es sei wichtig Utopien und Ziele zu haben und an ihnen festzuhalten und sich damit auch trotz aller Gewalt auf der Welt die Hoffnung zu bewahren, "dass das Leben einfach mehr ist. Andere haben durch das Zusammenleben im Hüttendorf ihre Angst vor Nähe zu fremden Menschen verloren oder auch ihren Respekt vor vermeintlichen Autoritäten. "Es gab keine privilegierten Leute, egal ob Adel, Pastor oder Schröder hinterher war die Angst vor Leuten, die was Besseres oder Höheres sind, weg", sagt Monika Tietke.
auch wenn am Ende, nach 33 Tagen, die" Schlacht militärisch verloren wurde", meint Gabi Haas. Zu diesem politischen Sieg gehört für Jörg Janning, dass nach "1004" Atomenergie ein öffentliches Thema wurde, dass über Sicherheitskonzepte diskutiert wurde, die Betreiber und die ihr freundlichen Politiker nichts mehr unter sich ausmachen können: "Wenn man
sieht, wie die Industrie mit dem Rücken an der Wand steht, haben wir eine Menge erreicht" . Und auch für die Kirche war nach "1004" klar, dass sie sich nicht länger aus der Diskussion raushalten konnte, dass sie zur Atomenergie als eine Gefährdung von schöpfungsbedrohen
dem Ausmaß Stellung nehmen musste. Gottfried Mahlke erlebte diesen Wandel hautnah: Dass er auf "1004"einen Gottesdienst feiern wollte, war für die Kirchenleitung nicht hinnehmbar. Dem Predigtverbot beugte er sich. Heute ist die Kirche weiter, bekennt Farbe und auch die Synode äußert sich klarer und eindeutiger. Basis für diesen politische Sieg war die konsequent durchgehaltene Gewaltfreiheit. Vor "1004" sagt Mahlke, gab es noch eine Option für Gewaltfreiheit, "danach war sie ein Credo". Und dieser Politische Sieg gab neue Power - vor allem für den Weg durch die Instanzen: Für Karl Behrens und viele andere war "1004" der Anlass, in die Politik zu gehen - und sie wurden gewählt. Dass er seine Vorstellungen, wie viel sich auf diesem Wege verändern ließe, allerdings bald an die Realität anpassen und Kompromisse schließen musste, ist eine andere Geschichte. Das Hüttendorf "1004" war der Startschuss dafür, dass sich im Wendland neue Netzwerke bildeten -"so wie die britischen ,old Boys connections"', meint Undine von Blottnitz, - die das heutige Bild des Landkreises prägen. Gerade jetzt zur Kulturellen Landpartie. Dem Wendland habe der plötzliche Einfall der Fremden und der Städter letztlich nur gut getan. Heike Mahlke: Bis dahin war der Landkreis eine Insel, abgeschottet von der übrigen Welt, jetzt mussten sich die Menschen hier plötzlich mit anderen Ideen und Lebensweisen auseinandersetzen, wurden "genötigt, aus ihrer bequemen
Und sie taten es, ebenso neugierig wie voller Vorurteile. An die Szenen, wie die ersten auf dem Platz auftauchten - um nur mal zu gucken - ist vielen in Erinnerung. Man kam ins Gespräch, die wendländischen Bauern erkannten, dass die Langhaarigen "doch ganz nett sind" und kamen am nächsten Tag wieder. Dann aber mit ihrer Frau und Körben voller Lebensmittel. Dass der Nachschub an Essen nie ausblieb, dass für jeden Tag für alle genug da war, versetzt Lilo Wollny noch heute in Staunen. Der Bibelspruch aus der Bergpredigt: "Sorge Dich nicht für den anderen Morgen, denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen", sei wahr geworden. "Da hätte ich fast fromm werden können." Ressentiments bestanden auf beiden Seiten, auch die Städter hatten Vorurteile, die nicht ohne waren. Dazu gehörte auch ein anderes Politikverständnis, "wir waren vielleicht naiver, offener", meint Undine von Blottnitz. Dass die Zusammenarbeit auch über 1004 hinaus funktionierte, erlebte Karl Behrens, dem "ein Büroangestellter und drei Studenten"
einen langen Tag beim Strohladen halfen, als er durch seine vielen Besuche auf " 1004 " mit der Arbeit auf seinem Hof ins Hintertreffen geraten war. Sich mit den jeweils anderen auseinander zu setzen habe beiden Seiten gut getan, meint , Frieder Schietzelt. Auch wenn in einigen Familien oder Dorfgemeinschaften einiges kaputt gegangen sei, weil "Betonköpfe auf Betonköpfe getroffen" seien. Aber letztlich überwiege das Positive. Andere Landkreise, die diese Erfahrungen nicht gemacht hätten, seien ärmer dran, meint er. Ob "1004" wieder machbar wäre, da gibt es Zweifel. Die Zeiten heute sind anders als die von damals. Undine von Blottnitz ist aber fest davon überzeugt, dass es in der Politik anders aussehen würde, wenn sich die Bevölkerung wieder geschlossen wehren würde. Jetzt werde den Grünen die Schuld gegeben, dass nicht alles nach Wunsch laufe. Die Lehre aus "1004 ", nämlich dass man sehr stark ist, wenn man gemeinsam und ohne kleinliches Gezänk handelt und über Grenzen hinweg denkt, die man sich selber zieht, sei mittlerweile vergessen. Der Schritt, in die Parlamente zu gehen, sei richtig und wichtig gewesen, aber kein Freibrief, sich künftig nicht mehr engagieren zu müssen. Da haben sich einige zuviel darauf verlassen,
dass es die anderen schon machen werden, konstatiert Lilo Wollny. Der sind die Austritte Lüchow-Dannenberger Atomkraftgegner aus der GrünenPartei sehr nahe gegangen, weil damit die Gemeinschaft," in der bislang jeder jeden trug", Risse bekommen habe. "Jetzt kracht die Bewegung an sich selber zusammen - das ist schlimm, aber wir überstehen auch das", sagt Lilo Wollny. Und auch Gabi Haas sieht die Bewegung an einem Wendepunkt angekommen. Die Kraft und Stärke, die aus "1004" gezogen wurde, sei am Bröckeln. Es erschreckt sie, dass man sich zur Zeit an der Frage zerfleische, ob man noch bei den Grünen bleiben dürfe. Und noch etwas: In den ersten Mai-Wochen dieses Jahres, als es tagsüber sommerlich heiß und nachts kalt war, da haben sich viele, die damals am Hüttendorf mitbauten, an jene Zeit erinnert. Das Wetter war damals genauso: heiß und kalt und dazu vier Wochen kein Regen. |
Zurück zur Chronologie der Gorlebener Atomanlagen im Jahre 1980